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Samnaun: Zollfreier Einkauf. Foto: Ulrich Horb
Samnaun: Zollfreier Einkauf. Foto: Ulrich Horb

„Bittschön, was haben Sie zu verzollen?“ fragt der österreichische Grenzbeamte freundlichst in den Wagen hinein. Über mangelnde Beschäftigung kann er sich hier an der kleinen Grenzstation zum schweizerischen Samnauntal wahrlich nicht beklagen. Busse, Autos, LKWs, Touristen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien kommen zu gewinnbringenden Abstechern nach Samnaun. Denn hier befinden sich Europas billigste Tankstellen, hier steht ein „Duty-free-Shop“ neben dem anderen.

Samnaun, das ist nach ADAC-Umfragen das „Benzinparadies Europas“. Ein Liter Sprit kostet hier weniger als eine Mark, er ist rund 50 Pfennig billiger als in der übrigen Schweiz. Zollfrei zu erstehen sind aber genauso Zigaretten, Spirituosen oder noble französische Parfüms. Enttäuscht werden allenfalls Schokoladenliebhaber: Auch die „Alpenmilchschokolade“ ist in Deutschland im Sonderangebot noch immer billiger als im zollfreien Einkauf.

Der eigentliche Ort Samnaun besteht aus kaum mehr als einer Hauptstraße, an der sich dicht an dicht Hotels, Restaurants, Cafés und zollfreie Supermärkte drängen. Ein wirtschaftlich florierendes Gebiet, das auch jungen Samnaunern eine gesicherte Existenz verspricht. 1980 zählte das Tal genau 597 Einwohner. Abwanderungsgelüste gibt es hier im Gegensatz zu anderen Bergtälern nicht. Seit 1850 steigen die Einwohnerzahlen kontinuierlich. Bei der Volkszählung 1980 waren 195 Samnauner jünger als 19 Jahre, Zeichen dafür, dass auch für sie das Tal eine Perspektive bietet.


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Keine Frage: Die Zollfreiheit des Tales hat sich ausgezahlt. Dabei war diese Samnaunsehe Besonderheit ursprünglich aus der Not geboren. Es sollte den Handel des abgelegenen schweizerischen Tales mit dem österreichischen Tirol sichern.

Die ersten Siedler, die auf der Suche nach neuen Weidegründen zwischen 800 und 1000 n. Chr . ins Tal kamen , stammten aus dem Unterengadin. Ihre rätoromanische Kultur hat sich vor allem in den alten Orts-, Straßen- und Bergnamen erhalten.

Pässe führten ins Engadin und Paznauntal. Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts musste alles , was an Waren hin und herging, auf dem Rücken aus dem oder ins Tal geschleppt werden. Die Ferkel beispielsweise, die die Samnauner Frauen besonders billig im Südtiroler Vintschgau erstanden , wurden so in zehnstündiger Wanderung heimgebracht. Ein Ochsenkarrenweg führte ins österreichische Pfunds. Da es keine Verbindungsstraße mit dem übrigen Kanton Graubünden gab, entwickelte sich nur mit den Tiroler Bauern ein wirklich reger Handel. Jedenfalls bis 1848. Dann setzte dem die Vereinheitlichung des schweizerischen Zollsystems schlagartig ein Ende.

Die Lebensmittel verteuerten sich stark. Da kaum andere Handelswege aus dem umschlossenen Tal heraus führten, reichten die Talgemeinden, unterstützt vom Kanton Graubünden, 1888 erstmals einen Antrag bei den Bundesbehörden ein, das Tal aus dem Schweizer Zollgebiet auszugliedern. Vier Jahre später entsprach der Bundesrat einem zweiten Antrag.

Die Probleme waren damit nicht ausgestanden. Die Abhängigkeit der eidgenössischen Bergbauern vom guten Willen der Österreicher führte 1912 zur Fertigstellung einer direkten Verkehrsverbindung in die Schweiz. Zuvor hatten die österreichischen Behörden schon mal, wenn es ihnen gefiel, einen Viehtrieb aus dem Samnauntal nach Bayern untersagt.  Zwar war nach dem Straßenneubau der Hauptgrund für die zollfreie Zone fortgefallen, doch hielt man an der guten Tradition fest. Zum Vorteil des Tourismus, der seit den dreißiger Jahren das ruhige Tal zunehmend erfasste.

Seilbahn Samnaun. Foto: Ulrich Horb
Seilbahn Samnaun. Foto: Ulrich Horb

In der Landwirtschaft arbeiten heute nur noch rund 20 Prozent der Samnauner. Seit Mitte der fünfziger Jahre der erste Lift eröffnet wurde, drängen vor allem Skitouristen ins 1800 Meter hoch gelegene Samnaun.

Und immer mehr nutzen seither die Einkaufsmöglichkeiten zu einem Abstecher. Mancher, der in anderen Orten des Dreiländerecks Unterkunft gefunden hat, kommt fast täglich, sei es aus dem österreichischen Nauders oder Pfunds oder aus dem Schweizer Grenzland. Der überwiegende Teil der Samnauner findet seither sein Auskommen in Tourismus und Handel. In den letzten sechs Jahren stieg die Zahl der Betten auf 1700, eine glatte Verdoppelung. Und: Samnaun dürfte inzwischen das Dorf mit den meisten Parfümerien sein.

Der Einkaufsführer von Samnaun zählt fast alles auf, was gut und teuer ist. Ein Liter Chivas Regal, bevorzugter Whisky von Krimihelden, ist für rund dreißig Mark zu bekommen, wer gerne zwanzig Jahre alten Whisky trinkt , muss etwas mehr als das Doppelte anlegen . Obstler oder

Weinbrände sind schon für weniger als zehn Mark zu bekommen. Die Parfums von Dior , Lagerfeld , Lancome oder Yves Saint Laurent kosten im Schnitt die Hälfte vom deutschen Verkaufspreis. Entsprechend ist der Andrang in den Läden. Im Winter werden die Skitouristen ab 16 oder 17 Uhr in die Geschäfte gespült. Im Supermarkt leistet die Chefin dann noch verhaltenen Widerstand gegen die Plastiktütenforderungen: „Das war früher alles anders. Eine sinnlose Umweltverschmutzung. Ist doch so, oder?“ Aber der Touristen-Invasion ist auch sie nicht gewachsen.

Neben den zahlreichen Apres-Ski-Angeboten hat Samnaun im Winter allerdings auch ein größeres Skigebiet, eine Kabinenseilbahn zum Alp Trida Sattel in 2488 Meter Höhe und Abfahrten, die bis ins österreichische Ischgl/Silvretta hinabführen.

Bis Anfang Mai werden „Silberschnee-Wochen“ geboten, von Juli bis Oktober gibt es „Cristal-Wanderwochen“ mit einem vollen Programm aus Wandern und Ausflugsfahrten für jeweils eine Woche. Natürlich erhält jeder Teilnehmer gratis einen original Samnauner Wanderstock.

 

Der Beitrag entstand Anfang der achtziger Jahre für verschiedene Tageszeitungen. Samnaun ist auch heute noch zollfreies Gebiet. Der Liter Benzin kostet (Stand Juli 2015) knapp unter 1 Euro.

Von Ulrich Horb

Jahrgang 1955, lebt und arbeitet als Journalist und Fotograf in Berlin

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