Do. Nov 21st, 2024
Cover „Soziale Demokratie als Überlebenspolitik“.

Es ist nicht nur ein Datum, das sie verbindet. Am 22. Oktober feiern zwei Sozialdemokraten ihren 80. Geburtstag, die über viele Jahre die Ausrichtung der Partei geprägt haben: Wolfgang Thierse und Thomas Meyer. Der gemeinsame Geburtstag war nun Anlass, die beiden zu einem Gespräch über Gemeinsames und Trennendes, über historische Weichenstellungen und neue   Herausforderungen für die soziale Demokratie zusammenzubringen. Nachlesbar ist das jetzt in einem Buch: „Soziale Demokratie als Überlebenspolitik“.

Wolfgang Thierse, im Januar 1990 in die neu gegründete SPD in der DDR eingetreten und im Juni zu ihrem Vorsitzenden gewählt, war Vizepräsident des Deutschen Bundestages, viele Jahre Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD und des Kulturforums der Sozialdemokratie. Thomas Meyer, gelernter Elektromaschinenbauer (in der DDR) und Grubenelektriker (in Westdeutschland), studierte in Frankfurt/M. Philosophie, Politikwissenschaft, Psychologie und Deutsche Literatur. Von 1977 bis 2022 war er erst Mitglied, dann stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD. Er hat an etlichen SPD-Programmen mitgearbeitet und war Mitherausgeber der Zeitschrift Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte. Den einen charakterisieren die   beiden Herausgeber, die Politikwissenschaftler Klaus-Jürgen Scherer und Wolfgang Schroeder, als „denkenden Politiker“, den anderen als „politischen Denker“.


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Es gibt Verbindendes wie Trennendes. Beide stammen aus christlich geprägten Familien und lebten unterschiedlich lange im System der DDR. Wolfgang Thierse engagierte sich im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Meyer wurde zum Agnostiker. „Während Meyer sich vom Marxismus und der Kritischen Theorie herkommend über die Beschäftigung mit Eduard Bernstein einer praxistauglichen und mit der parlamentarischen Demokratie vereinbaren Theorie des Sozialismus annäherte, war es bei Thierse die Erfahrung mit dem dogmatischen Marxismus-Leninismus im sogenannten ‚real existierenden Sozialismus‘, die ihn zum bekennenden Verfechter einer resilienten sozialen Demokratie machte“, stellen die Herausgeber fest.

Es ist ein erfrischend offenes Gespräch der beiden. Der Gesprächsband, so die Herausgeber, wolle „wohlbegründete Anschauungen vermitteln“, er sei aber auch „ein Plädoyer für eine Revitalisierung theoretischer Anstrengungen, der Grundwerte, der Programmarbeit und einer eigenständigen, lebendigen Diskussionskultur in der SPD“.

So nehmen neben den persönlichen Lebensgeschichten wichtige Stationen der Sozialdemokratie in den zurückliegenden Jahrzehnten breiten Raum ein, etwa die Frage der Entspannungspolitik, die Wirkung des SPD-SED-Papiers in Ost und West und der Weg zur deutschen Einheit. Beide blicken aber auch nach vorn, sprechen über die Herausforderung der Migration, den Einfluss der Mediengesellschaft auf die Politik, Fragen der Identität und die aktuellen internationalen Entwicklungen. Persönliche Erlebnisse und Erinnerungen machen die historischen Rückblicke lebendig. Und manche Themen wie die Synthese von Ökonomie und Ökologie haben über die Jahre nichts an Aktualität verloren.

Klickzahlen, so Meyer, bestimmen die Themenfindung in den Medien.  Bestimmte Themen, so Meyer, würden medial nicht mehr so artikuliert und präsentiert, dass sich alle Gesellschaftsschichten mit ihren Interessen wiedererkennen können“. Thierse macht demokratiegefährdende Züge in der Entwicklung aus, „weil es für die Demokratie elementar ist, dass es ein Minimum an übereinstimmenden Problemwahrnehmungen und Informationen gibt, um Entscheidungen plausibel und konsensfähig zu machen“. Streit werde in der Mediengesellschaft immer weniger als produktive Auseinandersetzung wahrgenommen.

Thierse kritisiert die weit verbreitete Vorstellung, Demokratie sei dann gegeben, wenn geschehe, was der einzelne wolle. „Die Chance der Demokratie ist, dass ich meinen Willen artikulieren kann und mich mit anderen verbünde, um für Mehrheiten zu werben, ohne Garantie, dass ich mich erfolgreich durchsetzen kann“. Thierse bringt das auf den Punkt: „Der Kompromiss ist die Verwirklichungsform des Ideals auf Erden.“

Die veränderte Weltlage stellt die Sozialdemokratie vor neue Herausforderungen. Meyer stellt die Frage, wie eine neue friedenssichernde Weltordnung in einer Zeit geschaffen werden kann, wo die westliche Modernisierung in vielen Ländern nicht mehr als Vorbild dient. Grundlage könne das allen Gemeinsame sein, die UN-Institutionen und Grundrechte, sowie eine Verständigung über den Spielraum und das Eigenrecht der unterschiedlichen Zivilisationen.  Meyer plädiert zudem für eine größere Unabhängigkeit Europas von den USA. Meyer: „Europa muss sagen, wir machen unsere eigene globale Politik, wir kooperieren mit den USA, und im Übrigen kooperieren wir auch mit anderen.“

Für die Partei bringt Thierse eine Erfahrung aus der Arbeit der Grundwertekommission ein: „In der Partei muss über mehr diskutiert werden als das jeweils gerade zu verabschiedende Gesetz.“ Der Gesprächsband bietet dazu mehr als genug Stoff.

Soziale Demokratie als Überlebenspolitik. Wolfgang Thierse und Thomas Meyer im Gespräch über die politischen Zeitläufe. Herausgegeben von Klaus-Jürgen Scherer und Wolfgang Schroeder. Schüren Verlag Marburg 2023, 198 Seiten, 20 Euro.

Eine Langfassung dieses Beitrags ist erschienen in der Zeitschrift „Perspektiven DS“ 40. Jg, 2/2023, Schüren Verlag, S. 256 – 259

Von Ulrich Horb

Jahrgang 1955, lebt und arbeitet als Journalist und Fotograf in Berlin

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