Kann man in einer solch dramatischen Zeit Ideen für ein friedliches Zusammenleben der Völker Europas entwickeln? Im Kriegsjahr 1940 hat der 28jährige Willy Brandt in der Osloer Emigration ein Buch über „Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa“ geschrieben. Darin stellt er die Bildung einer europäischen Föderation als Weg zur Lösung von Konflikten auf dem Kontinent vor. Die Umstände, unter denen das Buch entstand, lenken den Blick wieder auf die ursprüngliche Idee eines friedlichen Europa, die es heute unter populistischen Angriffen immer schwerer hat.
Willy Brandt, von seiner linkssozialistischen Arbeiterpartei SAP 1933 nach Oslo entsandt, war gut vernetzt in der norwegischen Arbeiterbewegung, er veröffentlichte Artikel in sozialistischen Zeitungen und Zeitschriften, auch längere Aufsätze. „Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa“ war Brandts erste größere Buchveröffentlichung, geschrieben auf Norwegisch. Am 8. April 1940 hielt Brandt das erste Druckexemplar in Händen, die für den kommenden Tag geplante Auslieferung aber fand nicht mehr statt: Die deutsche Wehrmacht war in Norwegen einmarschiert. Die Druckauflage wurde von den Nazis bis auf wenige Exemplare vernichtet. Nun liegt der Band wieder vor, erstmals vollständig auf Deutsch.
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Der Historiker Einhart Lorenz hat Brandts Buch aus dem Norwegischen übersetzt. Brandt-Experte Lorenz, wesentlich an der zehnbändigen „Berliner Ausgabe“ der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung mit Schriften Brandts beteiligt, sieht in dem Band „den Auftakt für Willy Brandt als politischen Schriftsteller“. Detailliert befasst sich der junge Autor, der nach 1945 wie kein zweiter das „andere Deutschland“ verkörperte, mit den unterschiedlichen Kriegs- und Friedenszielen. 1939, so Brandt, sei der alte Krieg von 1914 wieder in Gang gekommen, der ohne sicheren Frieden nur vorläufig endete.
Sehnsucht nach dem dauerhaften Frieden
Brandt macht den weltweiten Imperialismus für den Krieg verantwortlich, sieht nur in seiner Überwindung eine Chance für Frieden. Und er wendet sich auch scharf gegen die zu dieser Zeit mit Nazi-Deutschland verbündete Sowjetunion, die ihr Gebiet erweitern wolle und deren Planwirtschaft „auf Grund von Rückständigkeit und Isolation Opfer bürokratischer und diktatorischer Entartung wurde, statt sich weiter in sozialistischer Richtung zu entwickeln“.
Untermauert mit vielen Zitaten und Quellen erläutert und hinterfragt er die offiziellen Kriegsziele der Staaten, auch Deutschlands, er zeichnet die Debatten darüber in den demokratischen Staaten nach, die Positionen der sozialistischen und der konservativen Parteien, die Haltung der neutralen Staaten und der kleinen Länder, die unter den Druck der Großmächte geraten. Brandt argumentiert differenziert und mit viel Verständnis für die unterschiedlichen Interessen und Befindlichkeiten der Völker. Ein sicherer Friede sei der Wunsch der Menschen in allen Ländern. Und immer wieder kommt er auf den ihm logisch erscheinenden Vorschlag einer europäischen Föderation zurück, in der alle Völker selbstbestimmt und gleichberechtigt miteinander leben können.
„Es besteht die Gefahr, dass das Donnern der Kanonen und die Blutströme noch einmal die Sehnsucht der Völker nach einem wahren und dauernden Frieden übertönen werden“, schreibt Brandt auf den letzten Seiten seines Buches. Er sollte recht behalten. Genauso wie mit seiner Vision von einem einigen Europa, das lange Jahre für Frieden gesorgt hat.
Willy Brandt, Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa, Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Einhart Lorenz, Willy-Brandt-Dokumente, Band 4, Dietz Verlag, 2018, 148 Seiten, Klappenbroschur, 18,00 Euro, ISBN 978-3-8012-0535-5
veröffentlicht in: Berliner Stimme 9-2018, November 2018, Link zur Ausgabe