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Blick über Hongkong 1983. Foto: Ulrich Horb
Blick über Hongkong 1983. Foto: Ulrich Horb

Am 1. Juli 1997 hisste Großbritanniens Kronkolonie Hongkong die rotchinesische Flagge. Im Vorfeld gab es Sorgen auf beiden Seiten. Beobachtungen aus den achtziger Jahren.

In den Verhandlungen zwischen Großbritannien und der Volksrepublik China geht es zu Beginn der achtziger Jahre um technische Details, um Verwaltungsfragen. Aber auch wenn die Volksrepublik immer deutlicher auf eine schnelle Klärung der restlichen Fragen drängt – die Übernehme Hongkongs ist für Peking nicht unproblematisch. Die „westliche Lebensart“, die von Hongkongs Wirtschaft so angstvoll verteidigt wird, bedeutet eben auch ein riesiges soziales Gefälle: Armut, Obdachlosigkeit, Bettler an nahezu allen Straßenecken.

In der Nähe des Dschunkenhafens von Kowloon, dem Festlandteil der britischen Kolonie, schwingt sich eine Hochstraße auf, die 100 Meter weiter im Bauch eines Hochhauses verschwindet. Unter dieser Straße lagern sie, die Bettler und Obdachlosen, Mütter mit Kindern, all die, die vom Wohlstand der Stadt nichts spüren. Alle ihre Habe liegt da, verpackt in drei, vier Beutel. Mit diesen Beuteln haben sie kleine Vierecke voneinander abgegrenzt, zwei oder drei Quadratmeter groß, wie  kleine Wohnungen. Eine Attraktion auch für Touristen aus Japan, die sich, mit Teleobjektiven bewaffnet, anschleichen, bis sie entdeckt und mit Geschrei vertrieben werden.

Hongkong, Schnellstraße 1983. Foto: Ulrich Horb
Hongkong, Schnellstraße 1983. Foto: Ulrich Horb

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Zwei Querstraßen weiter ist Nathan Road, die große Geschäfts- und Einkaufsstraße. Ein unüberschaubares Gewirr von Werbung schwebt über den Köpfen der Passanten, in den Auslagen der Discountgeschäfte ist der ganze Wohlstand des Kapitalismus-Eilands ablesbar: Fotoapparate aus Japan, Objektive, Transistorradios, Taschenrechner, Kleincomputer aus Hongkonger Produktion, ein Armbanduhr-Radio mit anschließbarem Kopfhörer.

Weil Hongkong kaum Steuern verlangt, können die Waren hier zu attraktiven Preisen angeboten werden, für Touristen zumindest, die aus den USA, Australien oder Japan anreisen. Aber sie müssen aufpassen. Denn was im ersten Laden als einmaliges Sonderangebot gepriesen wird, kann kaum drei Häuserecken weiter ohne besonderen Hinweis schon 100 Hongkong-Dollar billiger zu bekommen sein.

„Der Überblick“, so klagen Touristen, „geht völlig verloren.“ Wer nicht aufpasst, sieht sich im Nu übervorteilt. Für Andenken und Geschenkartikel sind Preisunterschiede von 100 Prozent und mehr möglich. Diese Marktwirtschaft wirkt vor allem für Reisende schockierend, die gerade aus der Volksrepublik China mit ihren Einheitspreisen kommen.

Hongkong, Wohnblock 1983. Foto: Ulrich Horb
Hongkong, Wohnblock 1983. Foto: Ulrich Horb

Die Stadt ist zubetoniert. Auf der Insel Hongkong, vom Festland in fünf Minuten mit der U-Bahn zu erreichen, stehen die Stahl- und Glaspaläste der Banken, zwanzig, fünfundzwanzig und mehr Stockwerke hoch. In Kowloon befinden sich die riesigen Bürohochhäuser der unzähligen kleineren Handelsgesellschaften und die Wohnsilos. Die Wohnungen sind wie kleine Käfige, die Balkons vollbeladen mit Möbeln und Geräten, die in den Zimmern keinen Platz finden. Mancher hat seinen Balkon mit einem Vorbau versehen, einige haben ihn vergittert, andere offen ausgebaut. Jedes Schächtelchen der riesigen Hochhäuser hat damit seinen eigenen Charakter.

Mehr als viereinhalb Millionen Menschen leben hier. Aber nur rund 40.000 haben es wirklich zu etwas gebracht, sie machen das große Geld mit ihren Handelsketten, mit den Billigprodukten „Made in Hongkong“.

Hongkong 1983, Straßenszene. Foto: Ulrich Horb
Hongkong 1983, Straßenszene. Foto: Ulrich Horb

Die große Mehrheit sind die kleinen Angestellten, Arbeiter und Händler. Viele von ihnen kamen einst mit großen Illusionen, Flüchtlinge aus der Volksrepublik. Aber gerade sie waren wohl dem Konkurrenzkampf, der hier herrscht, am wenigsten gewachsen: In der Volksrepublik lebten sie in einer Gemeinschaft, die dem einzelnen die Sorgen um die tägliche Existenz abnimmt – und ihn damit unfähig macht, in einem System wie dem Hongkongs zu bestehen.

Sie alle wissen, dass sie auf geborgtem Land leben. Für 99 Jahre hatten die Briten 1898 von den mandschurischen Tsching-Kaisern die „New Territories“, das Hinterland der Großstadt, gepachtet. Hongkong und die Halbinsel Kowloon hatten sich die Briten schon nach dem Opiumkrieg 1842 ein für allemal abtreten lassen. Ein „ungleicher Vertrag“, wie die Chinesen ihn nannten, zustande gekommen unter militärischem Druck. Ohne das Umland der „New Territories“ wären Hongkong und Kowloon allerdings heute ohnehin nicht lebensfähig. So muss die Frage nach der Rechtmäßigkeit der damaligen Schenkung nicht gestellt werden. Mit dem Ende der Pacht wird auch die Insel wieder abgetreten.

Hongkong, Straßenszene 1983. Foto: Ulrich Horb
Hongkong, Straßenszene 1983. Foto: Ulrich Horb

Die Versorgung Hongkongs ist fast völlig von der Volksrepublik abhängig, selbst das Trinkwasser wird geliefert. Mehr als ein Drittel der Deviseneinnahmen Pekings stammt aus dem Handel mit Hongkong. Das bedeutet eine gegenseitige Abhängigkeit.

Schon frühzeitig hat die Volksrepublik öffentliche Garantien für Hongkong abgegeben. Das Gebiet soll autonom bleiben, soll sein Wirtschaftssystem beibehalten, seine eigene Währung. Hongkongs reiche Oberschicht scheint dem gleichwohl noch misstrauisch gegenüber zu stehen. Einige renommierte Firmen haben im Stillen oder auch demonstrativ ihren Firmensitz verlegt, nicht wenige der zu Reichtum gekommenen Chinesen haben Gelder im Ausland angelegt und einen zweiten Pass in der Tasche.  Trotzdem wird weiter investiert in Hongkong. Noch sind 13 Jahre Zeit, Investitionen bringen hier aber schon nach vier, fünf Jahren entsprechenden Gewinn. Und Aufbruchsstimmung kann sowieso nur die vierzigtausend erfassen, die es sich leisten können.

Chinas gesamte Ausfuhr hatte im Jahre 1983 einen Wert von 22 Milliarden Dollar, davon gingen allein für 5,3 Milliarden Dollar Waren nach Hongkong. Mit dem Kursverlust des Hongkong-Dollars im Jahr 1983 (3 Hongkong-Dollar entsprechen etwa 1 Mark) musste die Volksrepublik beträchtliche Verluste hinnehmen, Verluste, die sich direkt auch in Chinas Einfuhrbilanz niederschlugen. Die Stabilität Hongkongs liegt somit auch im ureigensten Interesse der Pekinger Führung, die mit ihrem System der wirtschaftlichen Öffnung Erfolge nachweisen muss.

Hongkong, Zeitungsverkäuferin. Foto: Ulrich Horb
Hongkong, Zeitungsverkäuferin. Foto: Ulrich Horb

Hongkong ist für Peking das Tor zu neuen Märkten. Die Stadt soll ihre Superlative beibehalten: der Welt drittgrößtes Finanzzentrum, drittgrößter Containerhafen, drittgrößter Goldmarkt. Weltweit die Nummer 1, was den Export von Rundfunkgeräten, Uhren, Spielzeug oder Kleidung angeht. Die Stadt soll die traditionellen Bindungen zum Commonwealth und  seinen Märkten beibehalten.

Der Sonderstatus, den Hongkong erhalten soll, besteht in selbständiger Verwaltung und unabhängiger Justiz mit traditioneller Hongkonger Rechtsprechung. Freies Unternehmertum und Privateigentum sollen geschützt werden, genauso wie der Kapitalverkehr und ausländische Investitionen. Ein Angebot, das nicht viel anders auch für Taiwan gelten soll, wie Chinas KP-Generalsekretär Hu Yaobang schon mehrmals beteuerte. Hongkongs Erziehungswesen – durch und durch britisch geprägt – soll unangetastet, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit sollen erhalten bleiben.

Die Volksrepublik, so sehen es ihre eigenen Vorschläge vor, übernimmt nur auf dem Papier die Souveränität. Sie vertritt Hongkong außenpolitisch, obwohl die schon bestehenden Kontakte Hongkongs weiter von der Hongkonger Verwaltung gepflegt werden können, selbst Ein- und Ausreiseregelungen sollen autonom geregelt werden.

Das klingt – trotz aller Besorgnisse – auch für viele Hongkong-Chinesen nicht mehr so schlecht. Ihre größte Sorge: Wie stabil ist die jetzige Pekinger Führung? Könnte sie nicht vielleicht auch eines Tages wieder von einer Kulturrevolution davon gefegt werden? Wird dann auch die Hongkonger Bevölkerung wieder der Propaganda und den Erziehungskampagnen unterworfen?

Rings um die Kronkolonie hat die Volksrepublik schon seit längerem eine wirtschaftliche Pufferzone eingerichtet. Sonderwirtschaftsgebiete heißt das im offiziellen Sprachgebrauch, und dahinter steckt kaum verborgen die Errichtung eines quasi marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems. Shenzon heißt der Streifen, der Hongkong von der Provinz Guangdong trennt und in dem zahlreiche ausländische Firmen bereits vom Angebot billiger Arbeitskräfte verbunden mit Zoll- und Steuerfreiheit Gebrauch machen. Schon  1983 regiert hier der Hongkong-Dollar.

Canton, die Hauptstadt der Provinz Guangdong, hat das größte Warenangebot der Volksrepublik. Unzählige kleine, zum Teil private Geschäfte bilden ein riesiges, zentrales, staatliches Warenhaus. Parfüms und Jeans, Radios, Fernseher, Hemden, Fahrräder – alles ist hier zu finden, vieles erschwinglich. Nur Luxusartikel aus ausländischer Produktion stehen mehr als Anschauungsobjekte in den Regalen. Heimcomputer zum Beispiel, die bis zum Zehnfachen des Hongkonger Preises kosten.

Cantons Dächer sind übersät mit Hochantennen, sichtbares Zeichen des Wohlstandes hier im Süden der Volksrepublik. Farbenfrohe Kleidung bestimmt das Straßenbild, viel Mode aus Hongkong darunter. Kein Wunder, denn zahlreiche Hongkong-Chinesen bringen bei Verwandtenbesuchen Geschenke mit.

Hongkong 1983. Foto: Ulrich Horb
Hongkong 1983. Foto: Ulrich Horb

Die Arbeitslosen, die es in Hongkong gibt, könnte Canton kaum verkraften. Und so scheint es für alle Teile am besten, alles beim Alten zu lassen. Viel wird sich 1997 hier nicht ändern. Nur längs der Bahnlinie, drüben auf Hongkonger Gebiet, wird der eine oder andere im Barackenlager der Flüchtlinge seine nationalchinesische Flagge einholen. Und in Europa wird man sich vielleicht an eine neue Schreibweise für Hongkong gewöhnen müssen: Xianggang soll das schrille Paradies des Kapitalismus dann heißen.

Erschienen u.a. im Volksblatt Berlin, 24. Juni 1984

Anmerkung:

Die Übergabe Hongkongs ist 1997 planmäßig erfolgt. Seither gilt die Doktrin „Ein Land, zwei Systeme“,  dank derer das  marktwirtschaftliche System  Hongkongs erhalten geblieben ist.  Hongkong ist als Sonderverwaltungszone der Volksrepublik weiter eigenständiges Mitglied etwa der Asiatischen Entwicklungsbank oder der APEC. Die Bevölkerungszahl ist seit 1986 um anderthalb Millionen Einwohnerinnen und Einwohner auf gut sieben Millionen gestiegen. Hongkong verfügt über ein hohes Maß an Autonomie, was die Volksrepublik  allerdings nicht hindert, auf die innenpolitische und die demokratische Entwicklung immer wieder Einfluss zu nehmen. Der Regierungschef wird von einem Gremium gewählt, dessen Mitglieder weitgehend von Peking bestimmt werden. 2014 kam es zu heftigen Protesten, nachdem  der Nationale Volkskongress der Volksrepublik entschieden hatte, dass bei den für 2017 eigentlich angekündigten freien Wahlen in Hongkong nur bereits vorausgewählte Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl stehen sollen.

Von Ulrich Horb

Jahrgang 1955, lebt und arbeitet als Journalist und Fotograf in Berlin

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