Es sind kleine Geschichten und Begegnungen, Beobachtungen, Notizen und Vermerke. Einige schon vor Jahrzehnten festgehalten, vieles aus der Erinnerung aufgeschrieben. Mosaiksteine aus den Jahrzehnten der deutsch-deutschen Teilung und Annäherung. Entstanden ist eine packende deutsch-deutsche Geschichtserzählung mit biographischen Einsprengseln. Immer mit einem neugierigen Blick auf die Menschen, denen Winfried Sühlo begegnet, und auf die Parallelen und Veränderungen in den beiden Teilen Deutschlands.
In seinem Buch „Der rote Koffer“ nimmt Winfried Sühlo die Leserinnen und Leser mit auf eine persönliche Entdeckungstour durch die Geschichte. Das auffällige Utensil hat ihn auf den meisten seiner beruflichen Stationen begleitet. Auch heute trägt er seine Unterlagen in einem ähnlichen Modell durch die Stadt, in der er seit 1961 mit seiner Familie überwiegend wohnt.
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Winfried Sühlo wurde 1935 in Hannover geboren. In München und Berlin studierte er Geschichte und deutsche Philologie. Das Ende des Nationalsozialismus hat er als Kind erlebt, einen Eindruck der letzten Kriegstage vermittelt er mit kurzen Zitaten aus den Erinnerungen seines älteren Bruders. Die vier Siegermächte bauen neue Strukturen auf, Winfried Sühlo analysiert rückblickend die Anfänge der deutschen Politik, die Positionen der beiden Gegenspieler Konrad Adenauer und Kurt Schumacher und Entscheidungen wie die zur Vereinigung von SPD und KPD in der sowjetischen Besatzungszone. „Der Druck auf die SPD, einer Verschmelzung der beiden Arbeiterparteien zuzustimmen, war eine der verhängnisvollsten Entscheidungen der sowjetischen Deutschlandpolitik“, stellt Sühlo fest. Den SPD-Vorsitzenden Schumacher beschreibt Sühlo als brillanten Redner und großen Parlamentarier, der gewiefte Taktiker Adenauer entschied allerdings die erste Wahl in der Bundesrepublik für sich. Sühlos Fazit: „Der hauchdünn verpasste Sieg zeigt aber, dass ein sorgfältig angelegter Wahlkampf der SPD ein besseres Ergebnis hätte bringen können – auch dies eine verpasste Chance.“ Die Entwicklung Deutschlands hätte einen anderen Verlauf nehmen können. Adenauer setzte seine Vorstellungen der Westbindung durch. Noch einmal öffnete sich ein Fenster für die deutsche Einheit – mit der Stalin-Note 1952. Sühlo beschreibt auch diese Auseinandersetzung kurz und prägnant.
München wird für Winfried Sühlo nicht nur Studienort, sondern auch ein wichtiger Begegnungsort der Kultur. Fritz Kortner und Bert Brecht greift er beispielhaft als prägende Persönlichkeiten – auch für die gesamtdeutsche Kultur – heraus. Fassbinder erlebt er in einer Kleinstbühne.
Ostern 1961 fuhr er mit dem VW durch das Brandenburger Tor, „professionelle und zuvorkommende Grenzabfertigung ohne Aufenthalt“, notiert er. Auch in Berlin interessieren ihn Konzerte und Theateraufführungen. Im Mai 1961 zieht er in ein Studentenwohnheim im Westteil der Stadt, erlebt den Mauerbau und die Reaktionen. Waghalsige Fluchtversuche wurden vorbereitet.
Winfried Sühlo ist von nun an direkter Beobachter und wird immer mehr zum Beteiligten der deutschlandpolitischen Entwicklungen. Seine persönlichen Erfahrungen und Eindrücke ergänzt er immer wieder mit kurzen Einschätzungen der politischen und kulturellen Entwicklungen in den beiden Teilen Deutschlands.
Er erlebt die Studentenbewegung hautnah mit, Benno Ohnesorg ist wenige Wochen vor seinem Tod bei ihm zu Gast. Winfried Sühlo fängt das Lebensgefühl der eingemauerten Stadt ein, auch wieder mit dem Blick auf die Kultur, immer in kurzen Abrissen: der Wagenbach-Verlag entsteht, Hochhuths „Stellvertreter“ wird von der Freien Volksbühne aufgeführt, Ton, Steine Scherben und das Grips-Theater sorgen im Westen Berlins für Aufbruchsstimmung. Künstlerfreunde in der DDR werden zu operativen Vorgängen der Stasi.
Mit Egon Bahr und Willy Brandt wandelt sich in den sechziger Jahren die Deutschlandpolitik. 1971 wird Winfried Sühlo Assistent für „Zeitgeschichte nach 1945“ am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Ab 1978 begleitet er die neue Deutschlandpolitik in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramts.
Im Laufe der Jahre entstehen viele Freundschaften mit Künstlerinnen und Künstlern in Ost wie in West. Von einem von ihnen, Hans Scheib, sind etliche Radierungen im Band enthalten, meist Porträts von Menschen, die beiden wichtig sind. Regelmäßige Feste bieten den Rahmen für Begegnungen und Gedankenaustausch, auch nach dem Wechsel an die Ständige Vertretung in Ost-Berlin.
Winfried Sühlo reist durch die DDR, ein Land, das seine Bürgerinnen und Bürger nicht bei sich halten kann, er nimmt die politische Stimmung auf. Schlaglichtartig beschreibt er Deutsche zwischen Ost und West, den Literaturwissenschaftler Hans Mayer, den Schriftsteller Heiner Müller. Der Zerfall der Städte und die Umweltprobleme werden offenkundig. Das „Absterben eines deutschen Staates“ beobachtet er aus der Staatskanzlei Schleswig-Holsteins, in die er – nachdem die Abordnung an die Ständige Vertretung endet – am 1. Januar 1989 wechselt. Dort bereitet er deutsch-deutsche Begegnungen für Ministerpräsident Björn Engholm vor.
Dann bekommt er es wieder handfest mit der deutsch-deutschen Einigung zu tun: Von 1993 bis 1996 begleitet er als Staatssekretär für Kulturelle Angelegenheiten im Berliner Senat – Kultursenator ist der parteilose Ulrich Roloff-Momin – das Zusammenwachsen der Kultureinrichtungen der beiden Stadthälften. Am Beispiel der Akademie der Künste werden die Konflikte deutlich.
Heute engagiert sich Winfried Sühlo in verschiedenen kulturellen Vereinen und Institutionen, er ist Mitglied im Deutschen Werkbund, war 1997 Gründungsvorsitzender der Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin und hat lange Jahre das von ihm mitbegründete Kulturforum Stadt Berlin der Sozialdemokratie geleitet. Seine Buch gibt viele Anregungen – zum Nachdenken, für weitere Lektüre, aber auch zum Handeln.
Winfried Sühlo, Der rote Koffer, Mein Blick auf ein gespaltenes Land, 432 Seiten, 12,5 x 21,0 cm, brosch., m. Abb., Verlag am Park, ISBN-13: 978-3945187470, 22.99 Euro.