„Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ von Colin Crouch ist von der Friedrich-Ebert-Stiftung 2012 mit dem Preis „Das politische Buch“ ausgezeichnet worden. Die unabhängige Jury würdigte Crouchs im September 2011 erschienene Studie als eine differenzierte Analyse des gegenwärtigen komplexen wirtschaftspolitischen Geschehens mit seinen verhängnisvollen Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft. „Überzeugend arbeitet Crouch heraus, wieso der Neoliberalismus die Finanz- und Wirtschaftskrise so unbeschadet überleben konnte und legt dar, wie die großen transnationalen Konzerne auf staatliches Handeln nachhaltigen Einfluss nehmen und demokratische Entscheidungsprozesse untergraben“, so die Jury.
In seinem Essay „Postdemokratie“ (Suhrkamp 2008) hat Colin Crouch bereits anschaulich erläutert, wie in Demokratien demokratische Strukturen zu bloßen Hüllen werden können und „konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt“. In dem in solchen Strukturen wachsenden Einfluss von Eliten sieht Crouch den Vormarsch neoliberaler Ideen begründet, ihr erfolgreiches Zurückdrängen des Staates gegenüber dem Markt, der sich selbst überlassen werden soll.
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Mit der Finanzkrise, so der Autor in seinem neuen Buch, hätte die Idee des Neoliberalismus für erledigt erklärt werden können, weil die zentrale These von der Autonomie der Märkte widerlegt wurde. Der Staat griff mit Milliardensummen ein, um Banken und Versicherungen zu stützen. Überraschenderweise, so konstatiert Crouch, sei der Neoliberalismus jedoch nicht untergegangen. Er hat sich sogar festigen können. Und dafür bietet der britische Soziologe überzeugende Erklärungen.
Crouch hat ein Aufklärungsbuch geschrieben, leicht verständlich auch für Nicht-Ökonomen. Auch wenn er selbst schon im ersten Kapitel ankündigt, zum Schluss werde er „die Ära des Neoliberalismus überwiegend negativ beurteilt“ haben, so macht er es sich nicht einfach. Nüchtern und sachlich wendet er Begriffe, Positionen und Argumente. Er erläutert, wie sich Bedeutungen von Ideen wie der des Liberalismus gewandelt haben, welche unterschiedliche Bedeutung sie mitunter auch in verschiedenen Regionen der Welt haben. Und er macht historische Abläufe verständlich.
30 Jahre lang hatte in den westlichen Industriestaaten die keynesianische Wirtschaftspolitik vorgeherrscht, die auf Nachfrage setzte. Crouch zeigt die Schwächen auf, die zu ihrer Ablösung führten, vor allem die Inflationsgefahr, die durch staatliche Eingriffe dort wuchs, wo die Gewerkschaften nicht mäßigend wirkten.
Er analysiert die Funktion der Märkte und die Faktoren, die sie beeinflussen, macht die Unterschiede zwischen neoliberaler Theorie und Praxis deutlich. Märkte, wie sie das neoliberale Konzept voraussetzt, gibt es kaum. Mal fehlen Marktteilnehmern die Informationen, die sie für die ihnen von der Wirtschaftswissenschaft unterstellten rationalen Entscheidungen brauchen, mal wird der ungehinderte Markteintritt oder -austritt verhindert. So hat der Staat den „Austritt“ mehrerer „systemrelevanter“ Banken aus dem Markt durch Stützungsaktionen verhindert.
Das Modell wandelte sich zudem. „An die Stelle der liberalen Idee der Wahlfreiheit des Konsumenten“, so Crouch, „trat die paternalistische Sorge um seinen Wohlstand, derzufolge er vor allem von sinkenden Preisen profitiere, die natürlich eher von Großkonzernen als von kleinen und mittleren Unternehmen gewährleistet werden können.“
Diese Entwicklung macht die großen Konzerne zum dritten wichtigen Faktor neben Markt und Staat. Sie sind nicht nur am effektivsten und damit am attraktivsten für Konsumenten, sie entwickeln zunehmend Monopolstellungen und sind in der Lage, Staaten zu erpressen. „Von allen Formen des Marktversagen sind daher jene die gefährlichsten, welche die unverhältnismäßige Konzentration von Wohlstand befördern, da sie sowohl den Markt als auch die Demokratie unterhöhlen“, befindet Crouch.
Mehr Marktwirtschaft, so die Analyse von Colin Crouch, bringt mehr Marktgiganten. Zudem verschwinden Grenzen zwischen Markt und Staat. Einerseits habe der Staat sich unter dem Einfluss neoliberaler Konzepte aus Aufgaben zurückgezogen,die nun private Anbieter übernehmen, andererseits seien Lobbyvertreter als Berater in Behörden aktiv und verschafften sich dort Vorteile. Zwar habe die neoliberale Kritik die Schwachstellen des öffentlichen Dienstes zutreffend benannt, die verordnete Kur aber habe sich als wenig heilsam erwiesen.
Genauso wenig wie der Schock der Finanzkrise das Handeln der Märkte grundlegend verändert hat. Geplante staatliche Eingriffe wurden wieder abgemildert. Crouch hält es sogar für wahrscheinlich, dass die Nachfrage erneut über schlecht abgesicherte Kredite angekurbelt wird.
Kritiker des Neoliberalismus finden in Crouchs Buch eine brillante Analyse der gegenwärtigen Krisenerscheinungen und Fehlentwicklungen, aber auch eine Warnung vor allen Systemen, die einfache Rettung versprechen. Crouch bietet folgerichtig kein Gegenkonzept, fordert nicht die Rückkehr zum Keynesianismus und keine staatliche Wirtschaftslenkung. Angesichts nicht funktionierender Märkte, eines Staates, der dem Einfluss großer Konzerne ausgesetzt ist und von Parteien, die sich mehr oder weniger systembedingt auf gegenseitige Schuldzuweisungen beschränken statt den Einfluss von Unternehmen zu begrenzen, setzt Crouch seine Hoffnung auf den Druck der Zivilgesellschaft, auf die Macht von Verbrauchern, auf ihre Moralvorstellungen. Und er stellt fest: „Wir brauchen kollektive und öffentliche Güter in jeder nur denkbaren Hinsicht.“
Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Postdemokratie II, EUR 19,90 [D]. edition suhrkamp, Klappenbroschur, 248 Seiten, ISBN: 978-3-518-42274-8