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Schule in Nanking 1983. Foto: Ulrich HorbSchule in Nanking 1983. Foto: Ulrich Horb
Schule in Nanking 1983. Foto: Ulrich Horb
Schule in Nanking 1983. Foto: Ulrich Horb

1983: Wie Kinder und Jugendliche Chinas großen Sprung nach vorn erleben

Mao würde sich ganz schön umgucken: Statt politischer Parolen würde er in Peking Marlboro- und Coca-Cola-Werbung finden. Und statt Kulturrevolution ist Leistung angesagt: Nur wer viel leistet, verdient auch viel und kann sich den neuen Fernseher oder die Waschmaschine kaufen. Die Volksrepublik China ist auf dem großen Sprung nach vorn. Und die Jugendlichen sollen ihn möglich machen.

„Zehn Jahre hat keiner etwas Richtiges gelernt“, klagt Liu Yandong , stellvertretende Vorsitzende des Allchinesischen Jugendverbandes. Wenn sie von der Zeit der Kulturrevolution spricht, dann sagt sie nur: „Das zehnjährige Chaos.“ Schulen funktionierten nicht, Unis waren geschlossen. Akademiker arbeiteten in Betrieben, um näher an den Problemen der Arbeiterklasse zu sein. „Ein Altersfehler von Mao“, sagt Liu Yandong heute kurz dazu. „Er hätte das verhindern müssen.“

Inzwischen hat ganz China nur noch ein Ziel: Bis zum Jahr 2ooo sollen sich alle Wirtschaftsleistungen vervierfacht haben. „Dazu brauchen wir natürlich viele Fachleute“, erklärt Liu Yandong. Die Kinder der Kulturrevolution fallen dafür wohl weitgehend aus. Schulen und Unis können den zig Millionen Jugendlichen jedenfalls keine Ausbildung mehr verschaffen.


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„Wir müssen das im Selbststudium schaffen“, sagt Dolmetscher Tian Hui. So ist er jedenfalls zu seinen Deutschkenntnissen gekommen. Mit zwanzig war er immerhin so gut, dass ihn der Pekinger Verlag für fremdsprachige Literatur als Übersetzer einstellte.

Den Tag über sendet das Fernsehen Bildungsprogramme für die Selbststudenten. Englisch oder Mathe , Physik oder Chemie, alles wird geboten . Aufregend sieht das allerdings nicht gerade aus. Die meiste Zeit ist eine Schultafel, vollgeschrieben mit Formeln oder unregelmäßigen Verben, zu sehen. Ab und zu erscheint ein Zeigestock im Bild. Aber Selbstdisziplin wird großgeschrieben.

Schon in der Grundschule lernen die Kinder das. Wohlgeordnet sitzen sie an den Tischen im Klassenraum, schwatzen nicht, ziehen den Vordermann nicht an den Haaren. Vorne an der Tafel steht die Lehrerin, und auf ihr Zeichen lesen alle 5o Kinder im Chor aus ihrem Lesebuch vor.

„Wir erziehen unsere Kinder so, dass sie von Klein auf ihr Vaterland lieben“, erklärt Frau Sun Jün, Leiterin der Konfuzius-Tempel-Grundschule in Nanking. „Wir verbinden Patriotismus und kommunistischen Geist. Das erste, was die Schulanfänger bei uns machen, ist die Staatsflagge aufzuziehen.“

Nanking 1983, Straßenputz. Foto: Ulrich Horb
Nanking 1983, Straßenputz. Foto: Ulrich Horb

Der Monat März ist der Monat für Zivilisation und Höflichkeit. Dann sind im ganzen Land die Putzkolonnen unterwegs. „Die Kinder lernen, dem Volke zu dienen“, erklärt die Schulleiterin. Ihre Schulkinder fegen den nahegelegenen Platz, sie helfen in der Nachbarschaft aus, machen Besorgungen für Ältere. Im ganzen Land laufen ständig Kampagnen. Die fünf Tugenden werden den Chinesen da etwa nahegebracht: gute Manieren, gutes Betragen, Moral, Ordnung und Sauberkeit. Oder die vier Schönheiten: die Schönheit der Gedanken, der Redensweise, des Verhaltens und der Seele.

Neueste Kampagne: die gegen „geistige Verschmutzung“. „Wir wollen nur das Gute aus dem Westen übernehmen“, erklärt ein Deutsch-Student in Shanghai. Und die stellvertretende Vorsitzende des Jugendverbands von Kanton: „Wir wenden uns jetzt gegen alles, was die Moral untergräbt und zu einem westlichen Individualismus führt, wo nur noch das Geld zählt.“

„Am Anfang hatten wir Angst, bankrott zu gehen“, sagt Cao Anfeng. Sie leitet den Jugendbasar von Nanking. „Ein Experiment“, sagt sie. „Aber es gibt inzwischen schon viele ähnliche Versuche.“

Mit dem Basar haben sich genau 176 Jugendliche selbständig gemacht. Sie besitzen seit einigen Monaten kleine Läden mit Spielzeug, Kleidung oder Lebensmitteln. „Alle waren vorher arbeitslos“, sagt Cao Anfeng.

Die Idee für den privaten Jugendbasar stammte vom Kommunistischen Jugendverband. „Nach dem zehnjährigen Chaos gab es viele Jugendliche· bei uns, die auf Arbeit gewartet haben“, erklärt Cao Anfeng. Mit staatlicher Förderung haben sie jetzt die kleine Ladenstraße eingerichtet. „Unsere Waren beziehen wir direkt von der Fabrik“, sagt Cao Anfeng. Deshalb können sie die üblichen Preise manchmal sogar in wenig unterbieten. Umgerechnet ein paar Pfennige wenigstens.

„Wir können natürlich nicht die Sozialleistungen bieten, die es in einem staatlichen Betrieb gibt.“ Aber das ist den meist Zwanzigjährigen jetzt egal. Das Geschäft läuft. 17o Yuan haben sie sich im November ausgezahlt. Das ist mehr als doppelt so viel wie ein durchschnittlicher Arbeiter nach Hause bringt. „Das ist natürlich nicht immer so“, schränkt Cao Anfeng ein.

Auch anderswo hat ein Großteil der Jugendlichen inzwischen Arbeit gefunden. Oft wurden spezielle Fabriken für sie eingerichtet, in Shanghai etwa, wo für die arbeitslosen Mädchen eigens eine Teppichfabrik errichtet wurde. „Selbsthilfefirma“ nennt der Chef der örtlichen Arbeitsverwaltung das.

Shanghais Hauptstraßen sehen so aus, als wäre ständig eine Radfahrer-Demo unterwegs. 11 Millionen Menschen leben in der Stadt, sonntags sind viele von ihnen in den Straßen unterwegs. Von Schaufensterbummel kann keine Rede mehr sein, so dicht ist das Gedränge.

Nanking 1983. Foto: Ulrich Horb
Nanking 1983. Foto: Ulrich Horb

In den Geschäften gibt es inzwischen so gut wie alles zu kaufen. Farbenfrohe Bekleidung löst den blauen Einheitsdress ab, überall wird für neue Haushaltsgeräte geworben.

Waschmaschinen, Radios und Fernseher, ja sogar teure japanische Stereoanlagen sind zu sehen. In Canton, einige hundert Kilometer südlich von Shanghai, hat das riesige staatliche Kaufhaus sogar eine eigene Abteilung für elektronisches Spielzeug und Computer. Sieben, acht riesige „Killerautomaten“, elektronische Schießspiele, stehen da, dicht umlagert von chinesischen Jugendlichen.

Fotoapparate und Computer sind aber auch bei noch so hohen Leistungszulagen für eine Familie allein nicht erschwinglich. Und auch den Videorecorder kann sich nur die gesamte Volkskommune zusammen leisten. Aber das plötzliche Konsumangebot ist ein vorzüglicher Anreiz für Höchstleistungen im Betrieb.

Schon Mitte der siebziger Jahre sind die meisten chinesischen Städte unterkellert worden. Ein dichtes Netz von Tunneln sollte im Kriegsfall die Bevölkerung aufnehmen, als Schutz vor Luftangriffen.

Der Keller des Jü-Juan-Straßenkomitees in Shanghai wurde von einem pensionierten Architekten entworfen. Zehn Meter unter der Erde liegt er, ein Duschraum gegen atomare Verseuchungen liegt neben dem Einstieg. Der Keller wurde in freiwilligen Arbeitsschichten vor allem von Frauen und Jugendlichen gebaut. „Nur das Material hat uns der Staat gegeben“, sagt der Leiter des Straßenkomitees Rang Zhonglian.

Belüftungsanlage und Stromgenerator werden im Ernstfall mit Benzin angetrieben, Wasser gibt es von einem unterirdischen Brunnen. Jetzt, im Frieden, kommen Licht und Wasser vom normalen Stadtnetz. Kaltes, grelles Neonlicht, stickige Luft. Aber weil im Zeichen des chinesischen Wirtschaftswunders kein Raum ungenutzt bleiben darf, ist unten eine Kleiderfabrik eingerichtet worden.

„Die Frauen“, so der Leiter des Straßenkomitees, „sind froh, hier unten arbeiten zu dürfen. Sie hatten vorher keine Arbeit.“ Gesundheitliche Schäden? Nein, die habe man bislang nicht feststellen können, antwortet er. Aber dafür brauchen die Frauen hier unten auch nur sieben Stunden täglich zu arbeiten, an sechs Arbeitstagen pro Woche. Urlaub haben sie nicht. Ein oder zweimal im Jahr veranstaltet solch ein Betrieb Ausflüge zu kulturhistorischen Denkmälern.

„Unsere Landwirtschaft“, so erklärt es die stellvertretende Vorsitzende des Allchinesischen Jugendverbandes, „versorgt mit nur 7 Prozent der Weltanbaufläche immerhin ein Viertel der Weltbevölkerung.“ Von der über eine Milliarde Menschen, die heute in der Volksrepublik lebt, sind rund zwei Drittel jünger als dreißig. „Wir können uns selbst versorgen“, sagt die Jugend-Funktionärin, „aber dann darf die Bevölkerung nicht weiter wachsen.“

„Liebe gibt es bei uns nicht“, sagen die Studenten. Liebe ist Jugendlichen nicht erlaubt, Geschlechtsverkehr vor der Ehe erst recht nicht. Nach dem Gesetz ist Männern ab 22 Jahren und Frauen ab 2o Jahren die Heirat erlaubt. „Aber wir fordern“, heißt es beim Jugendverband, „dass Männer nicht unter 27 und Frauen nicht unter 25 Jahren heiraten.“ Solch eine Heirat muss mit dem Betrieb, den Straßenkomitee oder der Volkskommune abgestimmt sein. Deshalb lässt sich die Einhaltung solcher Regelungen überprüfen.

„Wer sich als Student verliebt, fliegt von der Universität“, berichtet ein Student in Canton. Einmal sei ein Student deshalb bereits ausgeschlossen worden. Um erst gar keine Gefühle aufkommen zu lassen, stehen die Wohnheime für Mädchen und Jungen auf dem Uni-Gelände in einiger Entfernung. Gelegenheiten zum Kennenlernen müssen für die Heiratsfähigen deshalb mühsam in den Betrieben oder Hochschulen arrangiert werden. „Es ist nicht leicht, den passenden Partner zu finden“, klagen die Jugendlichen.

Im Zentrum von Shanghai steht der Jugendpalast, vor der Befreiung 1949 als Vergnügungsstätte und Theater genutzt, 15.000 Quadratmeter groß, mit zwölf Sälen. Heute zahlt man keinen Eintritt. Zehntausend Jugendliche kommen jeden Abend hierher. In den Gängen herrscht dichtes Gedränge und Geschiebe , der Theatersaal ist völlig überfüllt. „Wenn alles voll ist, wird unten das Tor geschlossen“, erklärt der Leiter des Jugendpalastes. „Man muss früh kommen.“

Auf einer Freiluftbühne im Hof treten Nachwuchsakrobaten oder Laienschauspieler auf. In Gruppen gehen Jugendliche einmal in der Woche oder einmal im Monat ihren Hobbies nach. Es gibt verschiedene Musikgruppen, Kalligraphie, Elektronik. Selbststudenten können Professoren zu sich einladen, um ihnen Fragen zu stellen. 120 Hauptamtliche arbeiten im Jugendpalast, um die Freizeit zu organisieren. Damit nichts dem Zufall überlassen ist.

 

Der Bericht ist im November 1983 entstanden.

 

Von Ulrich Horb

Jahrgang 1955, lebt und arbeitet als Journalist und Fotograf in Berlin

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