Politische Schnittmengen gibt es wohl einige in den Programmen von SPD, Grünen und Linkspartei. Gemeinsames politisches Handeln allerdings entsteht daraus nicht, erst recht kein breit getragener Gegenentwurf zum schwarz-gelben Politikansatz und zum marktradikalen Mainstream. Jetzt kommt aus den Gewerkschaften der Ruf nach einem „Kurswechsel für Deutschland“, erhoben vom Vorsitzenden der IG Metall Berthold Huber. Eine neue, bessere und gerechtere Sozial- und Wirtschaftsordnung fordert er. Sein Ziel beschreibt er in einem Essay, der zusammen mit acht zum Teil eher kritischen Antworten und Ergänzungen jetzt in Buchform erschienen ist.
Die Finanzkrise war absehbare Folge jahrelanger Fehlentwicklungen, aber sie bedeutet nach Hubers Einschätzung keinesfalls das Ende solcher politischen Irrwege. Und auch die bisherigen Rettungsversuche mit zaghafter Marktregulierung und Verstaatlichung führen nicht automatisch zu einem besseren Wirtschafts- und Gesellschaftmodell. „Über diese Maßnahmen hinaus bedarf es einer grundlegend neuen Politik, denn diese Krise ist keine gewöhnlich, zyklische Erscheinung, sondern eine Zeitenwende“, stellt Huber fest.
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Statt kleinerer Anpassungen müsse es um den Einstieg in eine Gesellschaft gehen, „die von mehr Mitbestimmung eines jeden Einzelnen in den Betrieben, einer demokratischen, ökologischen und nachhaltigen Wirtschaftsordnung, einer gerechten Verteilung des Wohlstands und einem ebenso leistungsfähigen wie solidarischen Sozialstaat bestimmt ist“.
Modellen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen erteilt Huber allerdings eine Absage, sie entsprechen nicht dem Leistungsgedanken, den der Gewerkschaftsvorsitzende für eine wichtige Grundlage hält. Und den er – etwa bei Mindestlohn und Arbeitslosengeld 1 – auch als Argument für seine Forderung nach mehr Gerechtigkeit nutzt.
Die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich allerdings muss beseitigt werden, die Fehlentwicklung der Märkte, der Blick auf kurzfristige Gewinne. Huber macht sich ausdrücklich auch einen Kohlschen Begriff zu eigen, wenn er jetzt eine „geistig-moralische Wende“ fordert.
Dabei beruft sich der IG-Metall-Vorsitzende auf einige grundlegende, aber durchaus unterschiedliche Traditionslinien: „Die Werte der IG Metall und aller Gewerkschaften wurzeln in der sozialistischen Arbeiterbewegung, der christlichen Soziallehre, in Kämpfen der Bürgerrechtler und denen der sozialen Bewegungen: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit ebenso wie Anerkennung, Respekt und Würde.“ Auf dieser Grundlage soll der Kurswechsel erfolgen. Freiheit bedürfe dabei stets auch einer materiellen Absicherung, merkt der #Gewerkschafter an.
Huber will den Kampf um die Meinungsführerschaft in der Gesellschaft aufnehmen. Um Meinungsführerschaft wirklich zu übernehmen, muss allerdings die Alternative klar herausgearbeitet sein. Ist es ein Kapitalismus mit mehr – und besseren – Regeln? Eine Marktwirtschaft, die noch etwas sozialer auftritt? „Es geht mir um eine soziale marktwirtschaftliche Demokratie und nicht nur um eine soziale demokratische Marktwirtschaft“, lautet Hubers Antwort.
Entsprechend setzt er für Veränderungen auf die Zivilgesellschaft, deren wichtiger Teil die Gewerkschaften sind, auf Beteiligung und Mitwirkung, auf die bewusste Entscheidung von Konsumenten. „Marktradikale verwüsten Gesellschaften“, sagt Huber. Wie aber hat sich ihr Denken so durchsetzen können, dass in der Politik, aber auch in der Wirtschaftswissenschaft kaum noch Alternativen erkennbar waren? Haben nicht auch die Gewerkschaften als Frühwarnsystem versagt? Und wie lässt sich sicherstellen, dass künftig für die Gesellschaft schädliche oder unerwünschte Entwicklungen rechtzeitig erkannt und verhindert werden, wenn die Kraft der Gewerkschaften nicht einmal in allen Branchen ausreicht, Mindestlöhne zu sichern? Und wie können unter solchen Bedingungen Mehrheiten für einen Kurswechsel erreicht werden, der selbst Gewerkschaftsmitglieder vor schwierige Veränderungen stellt? Denn Huber geht es auch um eine aktive Industriepolitik, um Nachhaltigkeit und damit auch um einen notwendigen – wenn auch sozial abgefederten – Strukturwandel.
Tatsächlich könnte sowohl Hubers Analyse der aktuellen Missstände wie auch seine Zukunftsbeschreibung Unterstützung aus unterschiedlichen politischen Lagern erhalten. Ein Weg zur Umsetzung des Kurswechsels erschließt sich damit noch nicht. Michael Schumann greift in seinem Aufsatz die Frage danach auf: „Werden neue Mehrheiten in den Parlamenten angestrebt? Welche Rolle spielen Demonstrationen und Streiks, das heißt Massenmobilisierung auf der Straße und in den Betrieben?“ Schumann entwickelt allerdings auch den Mitbestimmungsgedanken weiter und fordert mehr Selbstvertretung, „die Demokratisierung von unten“ zur Erreichung der Ziele.
Der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der Schaffung stabiler Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Er plädiert für den „Umbau der europäischen Volkswirtschaft hin zur wissenbasierten Wirtschaft“ mit mehr Investitionen in Bildung. Während Verheugen ähnlich wie Huber auf eine „soziale Marktwirtschaft mit hohem innovativen Anspruch“ und „weitsichtige Unternehmer“ setzt, stellt Stephan Lessenich in seinem Beitrag die Frage, ob eine Regulierung des Kapitalismus überhaupt möglich ist. „Was uneingeschränkt sympathisch klingt – die Utopie einer Gesellschaftsordnung jenseits des Denk- und Handlungszwangs der Kapitallogik – bedürfte politisch einer entschlossenen, offen antikapitalistischen Strategie.“ Hubers Papier bleibe dahinter jedoch „ebenso entschieden wie ausdrücklich zurück“.
Auch wenn das Buch selbst die Lösung nicht bieten kann – es liefert mit seinen unterschiedlichen Sichtweisen Stoff für viele weitere Diskussionen. Huber hat allerdings recht, wenn er sagt: Sie müssen schnell geführt werden.
Berthold Huber (Hg.), Kurswechsel für Deutschland, mit Texten von Martin Baethge, Colin Crouch, Erhard Eppler, Heiner Flassbeck, Stephan Lessenich, Burkhart Lutz, Heribert Prantl, Günther Schmid, Michael Schumann, Wolfgang Streeck und Günter Verheugen, Frankfurt 2010, 255 Seiten, Euro 24,90, ISBN-10:3-593-39104-X.
(erschienen in: Berliner Stimme 11-2010, 5. Juni 2010)